Hanna Farthmann

Essstörungen

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Jahrgang: 1981

Diagnose: Anorexia Nervosa (Magersucht)

 

Mein Weg aus der Magersucht, hinein ins Leben

 

Steinig war er, dieser Weg… raus aus der Krankheit, die jahrelang mein Leben komplett bestimmt hat. Gequält habe ich mich vor Hunger, gelitten habe ich vor körperlicher Schwäche und Schmerz, soziale Kontakte habe ich vernachlässigt (aus Angst in eine Situation zu kommen, in der ich mit Essen konfrontiert werde. Und das ist meist der Fall, wenn man in netter Runde beisammensitzt, ins Kino geht oder einen Ausflug unternimmt). Meine Familie und engsten Freunde habe ich belogen – mich habe ich belogen. Alles, um eine Krankheit aufrecht zu erhalten, die mich mein Leben hätte kosten können. Auch weniger drastische Folgeschäden waren mir durchaus bekannt. Es interessierte mich nicht. Ich war so verwachsen mit der Magersucht, ich wollte diesen Teil nicht hergeben.

 

Unvorstellbar, wo sie mich doch um so viele schöne Momente gebracht hat. Meine Jugend habe ich in Krankenhäusern und Kliniken verbracht. Wie oft habe ich gedacht: „Nie wieder kann ich diese Zeit nachholen“, was mich in tiefe Trauer versetzt hat. Aber statt zu denken: dann fang ich wenigstens jetzt an zu leben, habe ich mich weiter der Krankheit hingegeben. Wie geschrieben, so vergingen Jahre. Mal war ich so untergewichtig, dass ich stationär behandelt wurde, mal bewegte ich mich an der Grenze zwischen Unter- und Normalgewicht, sodass ich mehr oder weniger einen Alltag „leben“ konnte. Gedanklich aber war ich immer in dieser Magersucht gefangen.

 

2008 dann mal wieder ein Zusammenbruch. Mein Hausarzt reagierte sofort und organisierte einen Klinikaufenthalt – es sollte der letzte in Sachen Essstörungen für mich sein (das hätte ich damals nie für möglich gehalten).

 

Als ich mich in der Klinik eingelebt und etwas erholt hatte, erlebte ich auf einem Spaziergang in der Natur, wie aus dem Nichts einen Glücksmoment, der mich so sehr packte.

 

Das erste Mal in meinem Leben kam der Gedanke, wer ich wäre,
wenn ich nicht mehr die Magersucht wäre.
Wer wäre ich dann? Was hätte ich dann? Da war nicht so viel… Was nun?

 

Ich begann mein Leben zu ordnen. Die Momente, in denen ich dachte: ich möchte gesund werden, wurden mehr. Und der Gedanke, dass ich krank bleiben möchte, wurden weniger.
Aber da blieb die unbeantwortete Frage: wer oder was ich wäre, wenn die Magersucht aus meinem Leben verschwinden würde. Da war Leere und Stille. Also habe ich mich auf die Suche begeben. Das war nicht so einfach, denn die Stimme der Magersucht hat immerzu alles übertönt. Ich konnte nicht unterscheiden, was ich wirklich gerne wollte und was vielleicht doch die Magersucht wollte.

 

Und nun bestand meine Aufgabe darin herauszufinden, wer ich war – mich kennenzulernen, meine Vorlieben, meine Stärken, meine Wünsche. Ich habe begonnen meine Kreativität zu leben, bin umgezogen und habe neue Freunde kennengelernt. Eine Chance, ein Neuanfang, eine Möglichkeit zu zeigen wer ich bin, wenn ich nicht die Magersucht bin. Mal ging es besser, mal weniger gut. Aber ich habe es ganz ok gemacht 🙂

 

Geholfen hat mir unter anderem eine Übung, bei der ich mir vorgestellt habe, wie mein Leben in fünf Jahren aussehen könnte, wenn ich weiterhin an der Krankheit festhalte und wie es in fünf Jahren aussehen könnte, wenn ich sie gehen lasse und lebe. Ich erträumte mir eine eigene Familie. Ich arbeitete zudem viel an meiner Selbstliebe und betrieb Dankbarkeitspraxis. Ich hatte keine Unterstützung von einem Coach oder ähnliches, ich ging den Weg alleine.

 

2009 lernte ich jemanden kennen. Wir wünschten uns sehnlichst ein gemeinsames Kind. Kaum hatten wir den Entschluss gefasst es zu probieren, wurde ich schwanger. Schon bevor es zur Empfängnis kam, war ich mir aus tiefstem Herzen sicher: wenn ich diesen Weg gehe, dieses Wunder erleben darf, dann nur gesund. Nicht so ein bisschen den Weg gehen, so halbherzig, wie die letzten Jahre. Wenn, dann so richtig. Ohne die Möglichkeit, nochmal umzudrehen. Denn das war es, wie ich die letzten Jahre gelebt und mir immer offengelassen habe, was so unheimlich viel Kraft gekostet hat. Nichts Halbes und nichts Ganzes, irgendwas zwischendrin.

 

Nun begann also etwas komplett Neues. Was für eine aufregende und wunderbare Zeit.
Sonst hatte ich jedes Gramm an mir verabscheut. Und nun war alles so magisch und wundervoll. Ich begann meinen Körper zu lieben, konnte es kaum erwarten, bis mein Bauch anfing zu wachsen. Und das Beste: als er anfing zu wachsen, habe ich es tatsächlich geliebt.

 

Als ich meine zauberhafte Tochter geboren hatte, fühlte ich mich vollkommen.

 

Nach ein paar Tagen kam die Angst: was, wenn meinem Partner was passiert. Von Tag zu Tag wuchs die Angst. Bis zu dem Tag, als es mich wie ein Blitz traf. Nicht ihm wird etwas zustoßen, sondern mir. Schock. Panik. Tatsächlich ging es mir plötzlich körperlich sehr schlecht, was die Ärzte leider überhaupt nicht ernst nahmen. Aber ich war mir sicher: etwas stimmte nicht.

 

An dem Tag, an dem meine Tochter drei Wochen alt wurde, am 10. Februar 2011, geschah es. Ich verlor Blut, sehr viel Blut. Ich fragte die Notärztin, wie in einer Dauerschleife, immer wieder, ob ich nun sterben müsse. Zuerst beruhigten sie mich noch. Dann antworteten sie mir nicht mehr. Mir war klar: nun weicht das Leben aus meinem Körper, ich verlasse diese Welt… Ich verlor die Kraft, konnte die Augen nicht mehr offenhalten und nicht mehr wach bleiben. Dann der Gedanke an mein wunderbares Mädchen. Sie soll ohne Mutter leben? Ich darf sie nur vom Himmel aus aufwachsen sehen? Nein, das möchte ich nicht. Ich will leben, will noch so viel erleben, ich will auf dieser wunderschönen Erde bleiben. Dann war es erstmal dunkel und still.

 

Als ich aufwachte, war ich ohne mein Baby. Der größte Schmerz meines Lebens. Jede Sekunde tat so weh, nicht bei meinem Wunder sein zu können. Das ich noch in Lebensgefahr schwebte, war mir nicht bewusst. Ich konnte nur daran denken, dass ich mein Kind nicht alleine lassen wollte. Da spürte ich einen Lebenswillen wie nie zuvor. In der Anorexie habe ich die Möglichkeit schlichtweg hingenommen, daran sterben zu können – jetzt wollte ich leben!

 

Natürlich brauchte ich eine ganze Weile, um mich von den körperlichen und psychischen Strapazen zu erholen. Die Partnerschaft hielt nicht und ich zog mit meiner Tochter aus. So hatte ich mir das aber nicht vorgestellt. Trotzdem meisterte ich diesen Umbruch ohne Rückfall – was für ein Test!

 

Meine Tochter ist nun 9 Jahre alt. Nach meinem Zusammenbruch hat sich so viel verändert in meinem Leben. Ich bin dankbar, unendlich dankbar. Ich darf leben, wir sind gesund, wir lieben uns.

 

In dieser Zeit gab es zwei schreckliche Krisen. Bei der ersten habe ich ganz kurz gedacht: jetzt die Flucht in die Essstörung, das würde mir Erleichterung, Halt und Sicherheit bringen. Aber nein, ich bin da durch. Bei der zweiten Krise kam nicht einmal mehr dieser Gedanke :).

 

Ich kenne so liebenswerte Menschen, lebe ganz bewusst und voller Dankbarkeit. Ich habe viele Ideen, die gelebt werden wollen. Natürlich habe ich auch Tage, an denen ich mich energielos oder einfach nur mies fühle. Mir hilft es, mich mit lieben Menschen zu umgeben, Meditationen, Yoga, die Natur, meine Spiritualität, Kreativität, Musik, das Schreiben und vieles mehr. Aber eins ist klar, der Weg zurück in die Magersucht ist keine Option und wird es auch nie mehr sein. Und ich lebe nicht den kleinsten Funken der Essstörung. Ich bin ziemlich stolz auf mich 😉

 

Unzählige Male hatte ich die Idee ein Buch zu schreiben, habe Konzepte verfasst usw. Aber genau jetzt habe ich das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist, meine Erfahrungen zu teilen, anderen Mut zu machen und für Menschen da zu sein, die denken, sie müssen sich mit einem Leben mit der Essstörung zurechtfinden. Das musst Du nicht! Deshalb bin ich unfassbar dankbar, dass ich die ersten Schritte gegangen bin, diesen Text veröffentlichen darf und hoffentlich ganz viele Menschen damit erreiche:

 

Heilung ist möglich – egal wie tief du in der Essstörung steckst,
egal wie lange du schon krank bist und egal was andere sagen!

 

Nun gehe ich tatsächlich den Weg, auf den ich so viele Jahre hingearbeitet habe: ich mache mich selbständig mit Beratung und Coaching bei Essstörungen. Wenn Du mehr über mich und meine Angebote erfahren möchtest, schau gerne auf meiner Website vorbei:

 

www.hannafarthmann.de

 

Ich freu mich auf Dich, alles Liebe,
Hanna

 

 

Stand: 14.02.2021

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